In einer Zeit der schnellen Veränderungen kommt es immer wieder vor, dass Bereiche, die zusammen gehören, sich nicht in gleichem Maße entwickeln. Dies ist besonders ausgeprägt im Bereich der frühkindlichen Betreuung und Förderung. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es in Westdeutschland normal, dass Kinder bis zur Einschulung ausschließlich von ihren Eltern betreut und gefördert wurden, da es zu dieser Zeit noch üblich war, dass nur ein Elternteil gearbeitet hat. Dies hat sich grundlegend geändert.
Heute ist es die Ausnahme, dass ein Elternteil immer zuhause und für die Kinder da ist. Dies ist nicht nur darin begründet, dass immer mehr Frauen sich auch eine berufliche Karriere wünschen, sondern einfach darin, dass ein Einkommen häufig nicht reicht, um die Familie “zu ernähren”, wie es so schön heißt. Darum verzichten leider viele Paare ganz auf Kinder. Die Paare, die sich für Kinder entscheiden, stehen dann vor der Frage, wie ihre Kinder in der Zeit der Berufsausübung betreut werden, denn das Betreuungsangebot hat sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit wie die Berufstätigkeit von Müttern entwickelt. Und so gibt es auch heute noch nicht nur zu wenig Plätze im Bereich der Kinderbetreuung, sondern vor allem zu wenig Förderung für die Kinder, zumal das pädagogische Fachpersonal heute vor anderen Herausforderungen steht, als eventuell in der Zeit ihrer Ausbildung.
Wir wollten mehr über dieses Thema erfahren und haben mit Dr. Martin R. Textor gesprochen. In Paderborn geboren, besuchte er dort auch die Schule und ging nach dem Abitur für zwei Jahre zur Bundeswehr, wo er die Ausbildung zum Offizier absolvierte. In dieser Zeit sparte er ausreichend Geld an, um anschließend für zweieinhalb Monate durch Asien zu reisen und dann in den USA und in Südafrika zu studieren.
So studierte er Pädagogik an der Universität Würzburg, Beratung an der State University of New York at Albany und Sozialarbeit an der University of Cape Town mit den Abschlüssen Diplom und Promotion. Während seines Studiums in den USA besuchte er Veranstaltungen zu Erziehungsberatung, Ehe- und Familientherapie. Dabei entwickelte sich sein intensives Interesse an Familienthemen, und in der Folgezeit befasste er sich auch mit Integrativer Psychotherapie und Scheidungsberatung. Aufgrund eines Auftrags aus dem Bayerischen Landtag wurde er im Bereich der Adoptionsforschung tätig und interessierte sich in diesem Zusammenhang für familienbezogene Themen aus der Kinder- und Jugendhilfe.
Als der Arbeitsbereich Familienforschung vom Staatsinstitut für Frühpädagogik abgelöst und an die Universität Bamberg verlagert wurde, wechselte er in den Bereich der frühkindlichen Bildung. Seine Arbeitsschwerpunkte waren die Kooperation von Kitas und Jugendhilfe sowie die Elternarbeit. In diesem Zusammenhang führte er den Begriff der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft in die Elementarpädagogik ein. In all den Jahren befasste er sich immer wieder mit Zukunftsentwicklungen. So entstand schließlich der Arbeitsschwerpunkt Zukunftsforschung, bei dem er auch das Konzept einer zukunftsorientierten Pädagogik für Familienerziehung, Kita und Schule entwickelte.
Nach 20 Jahren im Dienst des Staatsinstitut für Frühpädagogik in München, einer dem Bayerischen Sozialministerium nachgeordneten Forschungseinrichtung, ließ er sich ab dem 01.01.2007 beurlauben und gründete zusammen mit seiner Frau Ingeborg Becker-Textor das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung in Würzburg, das bis Ende 2018 bestand. Das Institut wurde von der heimischen Wohnung aus betrieben. Neben der Veröffentlichung von Büchern und Websites zu Zukunftstrends und zukunftsorientierter Pädagogik wurden vor allem Fortbildungen für Erzieher und Erzieherinnen, gelegentlich auch für Lehrer und Lehrerinnen sowie Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, durchgeführt.
Seit Januar 2019 ist Dr. Textor Rentner und genießt vor allem die Arbeit in seinem Schrebergarten. Das während der aktiven Zeit entstandene Projekt mit der Website kindergartenpaedagogik.de wird von einem Berliner Institut weitergeführt.
Ich hatte das Glück, dass ich die Themen aus dem Bereich der Familienforschung bzw. Frühpädagogik, die mich interessierten, auch bearbeiten durfte. Am Ende eines Jahres formulierte ich Beschreibungen meiner Projekte bzw. schrieb diese fort. Die Projekte wurden in der Regel ohne nennenswerte Veränderungen von der Institutsleitung genehmigt.
Am Anfang des folgenden Jahres mussten dann alle Projekte dem für das Staatsinstitut zuständigen Referenten des Bayerischen Sozialministeriums vorgestellt werden. Etwa ein Fünftel meiner Arbeitszeit – über 20 Jahre gerechnet – wurde für Tätigkeiten aufgewendet, die von anderer Seite an mich herangetragen wurden (z.B. Mitarbeit in anderen Projekten). Dazu gehörte z.B. auch der Auftrag aus dem Bayerischen Landtag, eine Studie über offene Adoptionen anzufertigen. In diesem Zusammenhang stellte ich fest, dass es seit zwei Jahrzehnten keine empirischen Daten über Adoptionen, Adoptivfamilien und den Adoptionsprozess mehr gab. Daraufhin initiierte ich ein entsprechendes Forschungsprojekt.
Einige größere Projekte, an denen ich mitarbeitete, wurde von Gremien begleitet, in denen Mitarbeiter/innen von Verbänden, Erzieher/innen und Eltern vertreten waren und somit ihre Ansprüche direkt einbringen konnten. Das galt nicht für die von mir selbst verantworteten (kleineren) Projekte. Jedoch brachte ich meine Erkenntnisse in 485 Veranstaltungen – mit mehr als 24.600 Teilnehmer/innen – ein, an denen ich als Referent oder Fortbildner mitwirkte. Die hier entstandenen Diskussionen ermöglichten es mir, die Interessen von Sozialarbeiter/innen, Erzieher/innen bzw. Eltern immer besser zu berücksichtigen.
In den letzten Jahren erfuhr ich auch zunehmend Feedback seitens meiner Zielgruppen durch meine vielen Internetveröffentlichungen – sei es in der Form von Mails und Anrufen oder auch nur durch die Zahl der Pageviews. Wenn z.B. mein Artikel „Zur Aufsichtspflicht in der Kita und im Kindergarten“ rund 350.000 Mal zwischen September 2015 und Februar 2019 abgerufen wurde, dürfte er mit Sicherheit für Erzieher/innen und Eltern relevant sein.
In den fünf Jahrzehnten, die ich inzwischen überblicke, hat sich die Welt der Kleinkinder stark verändert. Zu Beginn meiner Karriere wurden in der BRD noch die meisten Kleinkinder bis zu ihrem vierten bzw. fünften Lebensjahr von ihren Eltern betreut und wechselten dann für ein bis zwei Jahre in einen Halbtagskindergarten, um gruppenfähig zu werden und Konzentration zu erlernen – als Vorbereitung auf die Eingliederung in die Klassengemeinschaft und das schulische Lernen.
Dann kam der Sputnik-Schock, und auf einmal sollten möglichst viele Kinder den Kindergarten besuchen. Die Erzieher/innen sollten sie vor allem kognitiv in Bereichen wie Mathematik, Naturwissenschaften, Technik und Frühlesen „belehren“ und zusätzlich Kinder aus der „Unterschicht“ kompensatorisch fördern. Dies wurde bald als Überforderung und Bevormundung kritisiert, und es entstand der Situationsansatz, der das entdeckende Lernen und die Selbsttätigkeit der Kinder betonte.
Als immer mehr Vier- und Fünfjährige den Kindergarten besuchten, befanden sich darunter auch vermehrt „Gastarbeiterkinder“. So spielte auf einmal die interkulturelle Bildung eine große Rolle. Einige Zeit später verlangten immer mehr Eltern behinderter Kinder, dass diese nicht mehr in Sondereinrichtungen, sondern in Kindergärten betreut werden sollten. So kam es zur Gründung integrativer Kindergärten und bald auch zu immer mehr „Einzelintegration“.
Um und nach der Jahrtausendwende wurde aufgrund der zunehmenden Müttererwerbstätigkeit und des Arbeitskräftemangels die Vereinbarkeit von Familie und Beruf forciert, was zu einem rasanten Ausbau des Systems der Kindertagesbetreuung führte: Inzwischen werden mehr als ein Drittel aller unter Dreijährigen und fast alle Drei- bis Sechsjährigen betreut. Insbesondere die Aufnahme von ganz kleinen Kindern führte zu einer radikalen Veränderung der Tätigkeit von Erzieher/innen, die nun z.B. mehr pflegerische und sprachanbahnende Tätigkeiten übernehmen müssen.
Das neue Jahrtausend brachte aber auch eine erneute Schwerpunktsetzung auf die frühkindliche Bildung, verbunden mit der Verabschiedung von Bildungsplänen seitens der zuständigen Länderministerien. Nun sollen Erzieher/innen Kleinkindern ganz viele Kompetenzen vermitteln und dabei ein gutes Dutzend verschiedener Bildungsbereiche abdecken. Spätestens die Flüchtlingswelle ließ viele Fachkräfte an ihre Grenzen stoßen, als sie mit kein Wort Deutsch sprechenden und zum Teil traumatisierten Flüchtlingskindern konfrontiert wurden. In Westdeutschland haben inzwischen mehr als ein Drittel aller Kindergartenkinder mindestens einen Elternteil, der im Ausland geboren worden ist. So ist inzwischen die Sprachförderung zur Hauptaufgabe vieler Fachkräfte geworden.
In den Jahren am Staatsinstitut für Frühpädagogik habe ich zum einen versucht, die Zusammenarbeit zwischen Erzieher/innen und Eltern zu intensivieren und in die Richtung einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft weiterzuentwickeln. Zum anderen war ich bestrebt, Kindern mit besonderen Bedürfnissen und Eltern mit (Erziehungs-) Problemen zu helfen und die sie betreuenden Erzieher/innen zu entlasten, indem ich die Kooperation zwischen Kitas und psychosozialen Diensten zu verbessern suchte. Daneben habe ich z.B. am Bayerischen Bildungsplan mitgewirkt, Formen der Altersmischung in und der Öffnung von Kitas analysiert, die Projektarbeit forciert, usw.
Während meines Studiums der Pädagogik an der Universität Würzburg hat mich die große Praxisferne der Lehrinhalte geärgert (dies war der Hauptgrund, weshalb ich zweimal im Ausland studiert habe). Das hat mich hinsichtlich meiner Autorentätigkeit stark geprägt: Ich wollte – und habe – vor allem praxisnahe Bücher und Fachartikel veröffentlicht, die zudem gut lesbar sind. Meine Werke haben eine große Verbreitung gefunden, wurden aber im wissenschaftlichen Bereich weniger geschätzt. Ich bin einfach meinen Weg gegangen…
Als einer der ersten Wissenschaftler habe ich die Bedeutung des Internets als Publikationsplattform entdeckt. Bereits im Jahr 2000 gründete ich die Website kindergartenpaedagogik.de, die mit mehr als 1.300 Fachartikeln und vielen Buchhinweisen inzwischen die umfassendste Informationsquelle zur Frühpädagogik im Internet ist. Natürlich stammt nur ein kleiner Teil der Texte von mir.
Für mich waren somit folgende Eigenschaften wichtig: Fleiß, denn ich habe für meine Projekte und Veröffentlichungen Unmengen von Büchern und Fachartikeln gelesen und ausgewertet, ein leserfreundlicher und an meine Zielgruppen angepasster Schreibstil, den ich mir antrainiert habe, redaktionelle Fähigkeiten (z.B. fremde Texte zügig zu bearbeiten – nicht nur zu korrigieren!) und der Umgang mit Computerprogrammen. Wäre ich noch jünger und verbal kompetenter, hätte ich bestimmt auch einen eigenen YouTube-Kanal…
Leider weist das System der Kindertagesbetreuung in Deutschland viele Mängel auf, die zum Teil seit Jahrzehnten bekannt sind. Beispielsweise fehlen nahezu überall Plätze für unter Dreijährige und entsprechen die Öffnungszeiten nicht dem Bedarf vieler Eltern. Aufgrund des eklatanten Mangels an pädagogischen Fachkräften dürfte sich an dieser Situation in den kommenden Jahren wenig ändern. Nur Eltern, die sich Kindertagesbetreuung etwas kosten lassen können, werden bei privaten Trägern von Kitas ein „maßgeschneidertes“ Angebot buchen können.
Ein weiteres, allseits bekanntes Problem ist die schlechte Betreuungsqualität, die sich z.B. in einer sehr großen Zahl von Kindern je Fachkraft oder in unbesetzten Stellen zeigt. Laut der „Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK) weisen über 80% der außerfamiliären Betreuungsformen nur eine mittlere pädagogische Qualität auf; unzureichende Qualität gibt es zum Teil in mehr als 10% der Settings.
Viele Eltern werden sich also damit abfinden müssen, dass die Qualität der Erziehung und Bildung, die ihr Kleinkind erfährt, mittelmäßig bis schlecht ist. Auch hier dürften sie nur im Einzelfällen eine Verbesserung der Situation erreichen können – Träger und Jugendämter werden in der Regel erst aktiv, wenn in Kitas gegen das Kindeswohl verstoßen wird. Somit kommt der Familienerziehung weiterhin eine große Rolle zu: Sie muss so gut sein, dass die mittelmäßige oder gar schlechte Qualität der Kindertagesbetreuung kompensiert wird.
Das können auch voll erwerbstätige Eltern leisten – wenn sie sich an den Abenden und Wochenenden „Qualitätszeit“ für ihre Kinder nehmen. Es hat sich nämlich wenig an folgendem altbekannten Problem geändert: Kinder, die zu Hause wenig gefördert werden, haben weiterhin schlechtere Bildungschancen (selbst wenn sie sehr frühzeitig und ganztägig betreut wurden) als Kinder aus „bildungsstarken“ Familien…
Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, was Menschen, die in der Kinderbetreuung tätig sind, täglich für jedes einzelne Kind und seine Eltern leisten und wie wichtig ihre Arbeit für die Zukunft der Kinder und somit auch für die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Aufgrund der vielfältig gestiegenen Anforderungen benötigen sie aber auch Unterstützung bei ihrer Arbeit. Einen Teil dieser Unterstützung bietet das Projekt kindergartenpaedagogik.de. Wir bedanken uns bei Dr. Martin R. Textor für seine Zeit und dieses informative Gespräch.